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Sexualisierte Gewalt an Kindern: Wie Erwachsene richtig reagieren

Ein bis zwei Schüler in jeder Klasse sind von sexualisierter Gewalt betroffen. Jeder Fall ist für Kinderschutzexpertin Irmi Wette einer zu viel. Deshalb klärt sie Kinder spielerisch zum Thema auf. Auch für Eltern hat sie wertvolle Tipps.

Von Rebecca Zweigle

Amberg-Sulzbach. Ein Onkel und eine Tante, die ihre Nichten und ihren Neffen bei jedem Besuch abknutschen und knuddeln wollen - ohne, dass die Kinder das möchten. Ein fiktiver Fall, den Irmi Wette so ähnlich schon oft miterlebt hat. Sie ist ausgebildete Pädagogin und hat den Verein "Pfoten weg!" gegründet. Dieser möchte Theater zur Prävention sexualisierter Gewalt fördern. In diesem Rahmen führt Wette das gleichnamige Puppenspiel in verschiedenen Städten vor Grundschülern und Kindergartenkindern auf.

Nun war die Theatermacherin aus Großharrie (Schleswig-Holstein) auf Einladung des Kinderschutzbundes Amberg-Sulzbach auch in Amberg und Sulzbach-Rosenberg zu Gast. Im Stück geht es um den Fall vom Anfang - mit Katzen in der Hauptrolle. Es soll den Kleinen nahebringen, was sexualisierte Gewalt ist und dass Kinder sich gegen Übergriffe wehren dürfen.

Unterschiedliche Formen

Die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene sich die Aufführung angesehen haben, sei nach Angaben der Expertin hoch. Ein bis zwei Kinder pro Klasse seien im Schnitt von sexualisierter Gewalt betroffen. Im vergangenen Jahr gab es laut Zahlen des Bundeskriminalamts 16 375 Fälle sexualisierter Gewalt an Kindern in Deutschland. Wette erklärt, was darunter fällt: "Das sind Übergriffigkeiten. Alle sexuellen Handlungen vor, mit und beim Kind." Tatsächlich zählen nicht nur ungewollte Küsse und Berührungen als Grenzüberschreitungen. Diese beginnen schon deutlich früher.

"Wenn Eltern ihre Kinder dazu zwingen, eine bestimmte Sache zu essen, ist das auch schon eine Form von Gewalt", sagt die Pädagogin. Gewalt müsse nämlich nicht körperlich sein. Es gebe auch verbale und psychische Gewalt. Durch Zwang vermittelten Erwachsene ihren Schützlingen, dass deren Nein nichts wert sei. "Dadurch verlieren die Kinder ihr eigenes Gefühl für Grenzen", betont Wette. Das sei fatal. Wenn Kinder lernten, dass sie selbst nicht respektiert würden, könnten sie andere nicht respektieren.

Verschiedene Anzeichen

Auch Brigitte Breitfelder, Vorsitzende des Kinderschutzbunds Amberg-Sulzbach, hat immer wieder mit Betroffenen zu tun. "Wenn ein Kind sich in unserer Betreuung auffällig verhält, beobachten wir es auf jeden Fall psychologisch", erläutert sie. Laut Wette gibt es Anzeichen, an denen Eltern erkennen können, dass das eigene Kind von sexueller Gewalt betroffen sein könnte. "Ein wichtiger Hinweis ist immer die plötzliche Verhaltensänderung eines Kindes." Auch eine übersexualisierte Sprache, also die inflationäre Nutzung sexueller Begriffe, oder Scheu vor Berührungen können ein Anzeichen sein. Genauso plötzliches Einnässen, obwohl das Kind schon selbstständig auf die Toilette gehen konnte. Die Liste ist lang: Nicht mehr alleine schlafen können, Essstörungen, Aggressionen und sich zurückziehen. Aber auch Waschzwang oder sich nicht mehr waschen wollen sind Hinweise.

Was die Expertin besonders betont: "Wenn Kinder bestimmte Menschen aus dem Umfeld nicht mehr sehen wollen, zum Beispiel den Nachhilfelehrer, den Sporttrainer oder einen Verwandten, sollten Erwachsene sie nicht zwingen, die Person sehen zu müssen." Tatsächlich stammen Täter ihren Angaben nach zu 95 Prozent aus dem nahen Umfeld. Sexualisierte Gewalt bahnt sich laut Wette langsam an. "Es wird eine scheinbare Beziehung zum Betroffenen aufgebaut und ausgenutzt. So entsteht eine emotionale Abhängigkeit."

Kindern glauben

Wenn ein Kind sich einem Erwachsenen anvertraut und über sexuelle Übergriffe berichtet, zählt vor allem eine Sache: Ihm zu glauben. "Stellen Erwachsene diese Geschichte infrage, verschließen sich die Kinder für immer", teilt Wette ihre Erfahrungen. Sie hat einen besonderen Tipp: "Am besten stellt man nicht intensiv Fragen, sondern hört verstärkend zu." Das heißt: Als Erwachsener muss man das spiegeln, was das Kind erzählt. Ein Beispiel: "Der Opa hat gesagt, ich soll ihm einen Kuss geben." - "Der Opa hat gesagt, du sollst ihm einen Kuss geben?"

Dann gilt es natürlich, die Übergriffe zu stoppen. Dafür sollten Erwachsene sich an entsprechende Fachstellen wenden und möglichst nicht selbst eingreifen. Es gibt sogenannte Insofas ("Insofern erfahrene Fachkraft") für sexualisierte Gewalt. Im Landkreis Amberg-Sulzbach arbeiten diese beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) und beim Jugendamt der Stadt und des Landkreises. Breitfelder vom Kinderschutzbund erklärt: "Natürlich können Erwachsene sich auch immer an uns oder an andere Hilfsangebote wenden. Alle bemühen sich, schnell den richtigen Ansprechpartner zu vermitteln."

Schuldgefühle sind destruktiv

Laut Wette ist es wichtig, dass Erwachsene in diesem Moment die Verantwortung übernehmen. "Schuldgefühle bringen niemanden weiter", betont die Expertin. Vor allem Betroffenen müsse man klarmachen, dass sie keinesfalls schuld an einem Übergriff sind. "Kinder sind niemals schuld." Das können die Kleinen vor allem durch Prävention lernen. Deshalb sollten Eltern mit ihnen offen über sexuelle Grenzüberschreitungen sprechen. Dafür gibt es verschiedene Bücher und kostenloses Informationsmaterial sowie Broschüren. Beispielsweise vom Weißen Ring oder der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs - natürlich auch online.

Zudem kann Kindern ein sogenanntes Körperbewusstseinstraining helfen. Dort lernen sie, auf ihr Bauchgefühl zu hören und auch sonst achtsam für ihre Gefühle zu sein. Das hilft letztendlich, mögliche Übergriffe besser einordnen zu können. Auch Wettes Arbeit trägt dazu bei, Kindern ein Selbstbewusstsein zu vermitteln und ihnen klarzumachen, dass sie ein Recht auf Hilfe haben. Die haben auch die kleinen Katzen im Theaterstück gebraucht. Gott sei Dank gibt es dort die Katzenfee, die ihnen beibringt, Nein zu sagen. Im echten Leben kann jeder die gute Fee sein!